Ein Geisterbahnhof - nagelneu
Wie Donnergrollen hallen die Geräusche der Straßenbahn, die 22 Meter weiter oben über die Mülheimer Straße rollt, durch den Rohbau aus Beton. Hier unten dagegen, tief unter der Erde am Ende einer provisorischen Stahltreppe, fehlen vor der Bahnsteigkante die Gleise, die Betriebsräume sind leer. Der Bahnhof Carstanjens Garten ist ein Geisterbahnhof, in den Achtzigerjahren gebaut und nie in Betrieb gegangen.
Wie aus der Zeit gefallen
Alle Assoziationen, die man gemeinhin mit solchen vor langer Zeit verlassenen, vermeintlich vergessenen Orten in Verbindung bringt, sind hier falsch: Die Wände sind nicht mit mehr oder weniger kunstvollen Graffiti beschmiert, Pflanzen und Flechten haben nichts zurückerobert. Kein bisschen Rost ist an der Stahltreppe zu sehen, nicht einmal an den Holzbrettern, die den Zugang zur zweiten Etage versperren, nagt der Zahn der Zeit. Stattdessen verlaufen unter der Betondecke braune Entwässerungsrohre, die aussehen, als wären sie eben erst installiert worden. Überhaupt wirkt alles so, als hätte ein Reinigungstrupp gerade sämtlichen Staub aufgefegt und danach feucht durchgewischt. „Unterirdische Bauwerke unterliegen keiner Witterung“, erklärt Udo van Laak, Sachgebietsleiter im Bereich Stadtbahn beim Amt für Stadtentwicklung und Projektmanagement, das Phänomen. „Sie haben deshalb eine Lebensdauer von weit mehr als 100 Jahren – das alles hier ist also quasi nagelneu.“
„Ein Kilometer unterirdische Strecke kostet etwa 100 Millionen Euro. Überirdisch sind es nur 20 Prozent davon.“
Damit das so bleibt, findet alle zehn Jahre eine große Bauwerkskontrolle statt, doch Mario Rütten sieht mindestens einmal im Jahr nach dem Rechten. Dann zieht der Sachbereichsleiter, bei der Duisburger Verkehrsgesellschaft (DVG) zuständig für Technik, Fahrwege und Haltestellen, seine gelbe Warnweste an, informiert aus Sicherheitsgründen über Funk die Kollegen und steigt hinab in die Dunkelheit, um mögliche Bauschäden am Bahnhofsgebäude zu beobachten und zu protokollieren.
Falsches Bild in den Köpfen
Die Faszination für solche sogenannten Lost Places kann der Ingenieur dabei nicht nachvollziehen. „Die meisten Leute haben von solchen Orten ein komplett falsches Bild“, glaubt er. „Die Notküche im Zivilschutzbunker am König-Heinrich-Platz zum Beispiel stellen sie sich vor wie die Küche auf einem Kreuzfahrtschiff – und dann sind da nur vier Steckdosen und sonst nichts. „Lost“, also verloren, ist die Haltestelle Carstanjens Garten ohnehin nicht wirklich. Tatsächlich könnten die unterirdische Stadtbahnstrecke und der Bahnhof samt seinen geplanten vier Gleisen irgendwann weitergebaut und ans Duisburger Verkehrsnetz angeschlossen werden. Schließlich sei die Stadtbahn ein Jahrhundertprojekt, meint Diplom-Ingenieur van Laak. Mit Blick auf die Zukunft wolle er da nichts ausschließen.
Die Voraussetzungen dafür sind jedenfalls da. In der Decke hängen noch kochtopfgroße Ösen für die Montage der Rolltreppen. Sogar einen Architektenwettbewerb für den vollständigen Ausbau des Bahnhofs hatte es damals schon gegeben – bis all die schönen Pläne jäh gestoppt werden mussten: Der Stadt ging das Geld für das Projekt aus.
Entlastung der Innenstädte
In den Siebzigerjahren war auf Landesebene beschlossen worden, die Innenstädte; im Ruhrgebiet durch ein eigenständiges, hochleistungsfähiges Verkehrsmittel zu entlasten. So wurde 1969 der Grundstein für den Stadtbahnbau der gesamten Region an der Station „Neuer Friedhof“ in Duisburg gelegt. Fünf Jahre später begann man in verschiedenen Teilabschnitten mit dem aufwendigen Bau der unterirdischen Stadtbahn in der Duisburger Innenstadt.
Von Beginn an ein Geisterbahnhof
Das Problem: „Ein Kilometer unterirdische Strecke kostet etwa 100 Millionen Euro, überirdisch sind es nur 20 Prozent davon“, erklärt Udo van Laak. Als die Finanzierung wackelte, verabschiedete sich die Stadt daher schon 1981 von der ursprünglichen Idee, die Hauptstrecke Richtung Mülheim noch weitere 600 Meter unterirdisch bis kurz vor die Koloniestraße verlaufen zu lassen, und griff stattdessen auf die schon bestehende oberirdische Strecke zurück. Denn nur so konnte sichergestellt werden, dass die Stadtbahn im gesamten Innenstadtbereich möglichst früh – am Ende war es das Jahr 1992 – in Betrieb gehen würde. Die Haltestelle Carstanjens Garten wurde trotzdem noch von 1981 bis 1984 gebaut – von Anfang an als Geisterbahnhof und als ein Stück Zeitgeschichte, das den Duisburger Stadtplanern alle Möglichkeiten off enhalten sollte.
Irgendwie doch „Lost"
Und wenn der Lichtkegel von Mario Rüttens Taschenlampe über die vierzig Jahre alten grauen Wände huscht und seine Stimme durch den leeren Rohbau hallt, wenn unvermittelt ein Zug herandröhnt, während man selbst im leeren Gleisbett steht, dann fühlt sich der Bahnhof tatsächlich ein bisschen an wie ein geheimnisvoller Lost Place.