Eine zweite Chance für die Jeans
In dem Duisburger Café Edel ist der Jeansstoff allgegenwärtig. Glasuntersetzer aus dem blauen Baumwollgewebe liegen auf den Tischen. Jeans- Rucksäcke stehen neben Jeans-Handytaschen in einem Regal. Und wer ein Kissen, eine Schürze oder einen Schlüsselanhänger aus dem robusten Material sucht, findet den passenden Artikel in einer Auslage. Alle Produkte haben eines gemeinsam: Sie wurden angefertigt aus getragenen Jeans. Gaye Sevindim hat den von ihren Besitzern einst aussortierten Hosen eine zweite Chance gegeben.
Die 47-Jährige führt mit Madita Teerporten das Edel. In einer ehemaligen Druckerei im Stadtteil Duissern schenken sie aber nicht nur Kaffee, Cola und Cocktails aus. Von hier steuert Sevindim auch ihr nachhaltiges Modelabel „Skarabea“. Bevor die Duisburgerin 2019 ihr Start-up gründete, hatte sie viel über die Machenschaften der Textilindustrie gelesen. Sie stieß dabei auch auf ein Bild, das eine Frau in Südostasien inmitten von riesigen Altkleiderbergen zeigte. „Die Klamotten werden sortiert und in der Regel danach geschreddert oder thermisch verwertet“, sagt Sevindim. „Deshalb hat mich das Bild sprachlos gemacht.“
Zeit zu handeln
Sie fasste den Entschluss, sich gegen die Kleiderverschwendung einzusetzen. Gleichzeitig konnte sich Sevindim mit dem Schritt in die Modebranche endlich einen Traum erfüllen: Als sie 16 Jahre alt war, bekam sie von ihrem Vater Ali, der einst als Schneider arbeitete, eine Nähmaschine. Der Teenager nahm sofort einen alten Sofa-Überwurf und verwandelte ihn in einen Rock und Weste. Gaye Sevindim fasste später den Entschluss, Textildesign zu studieren. Die Beraterin im Berufsinformationszentrum fand das aber keine gute Idee. Stattdessen empfahl sie der Schülerin ein BWL-Studium. „Sie wusste, dass ich aus einer Arbeiterfamilie stamme, und empfahl mir diesen Weg, um bessere Chancen zu haben“, erzählt Gaye Sevindim.
Für eine bessere Welt
Sie hörte auf die Beraterin. Ihr Studium drehte sich also um Statistiken und nicht um Stoffe. Nach ihrem Abschluss arbeitete Sevindim mehr als 20 Jahre als Personalerin. „Und trotzdem wollte ich noch was anderes machen und einen Beitrag für eine bessere Welt leisten“, erklärt Sevindim. Also gründete sie aus Überzeugung und hatte auch schnell einen Namen gefunden. Gaye Sevindim machte als Kind viel Unfug. Deshalb nannten ihre Eltern und ihre Geschwister sie immer Karaböcek, was auf Türkisch Mistkäfer bedeutet. Sevindim nahm die wissenschaftliche Bezeichnung und machte daraus eine weibliche Version – und kam so zu „Skarabea“.
Dass sie neue Produkte aus alten Jeans herstellen wollte, stand auch schnell fest. „Dann habe ich mir die Frage gestellt, wie ich ans Material kommen soll“, sagt Sevindim. Klamotten aus der Altkleidersammlung zu nehmen, stand nicht zur Debatte. Sie brauchte einen Händler, der sich mit Wiederverwertung auskennt. Sevindim fand das passende Unternehmen und wollte dort sogenanntes Blauzeug kaufen – so heißen alte Jeans in der Recycling- Branche. Bei der Verhandlung kam ihr Gegenüber auf die Mindestabnahme zu sprechen. Unter fünf Tonnen kämen sie nicht ins Geschäft. „Da hat mir erstmal der Atem gestockt“, sagt Sevindim. „Und trotzdem haben wir uns darauf eingelassen.“
„Wenn ich alles selbst verarbeitet hätte, wäre ich bis zum Renteneintritt nicht fertig geworden.“
Einige Wochen später fuhr an einem heißen Sommertag ein Lkw in Duissern vor. Er hatte neun Ballen gebündelter Jeans geladen. Gaye Sevindim stand vor der Frage, wie sie mit ihren Helfern die Ware von der Straße ins Lager bringen sollte. Ihr kam der Serienheld MacGyver in den Sinn, der durch seine Tüfteleien jedes Problem löst. „Wir haben uns Rampen und Flaschenzüge gebaut“, erzählt Sevindim. „Am Ende hatten wir fünf Tonnen Jeans unter unserem Dach.“
Nun begann die kreative Arbeit. Sevindim setzte sich an eine Industrienähmaschine und fertigte erste Schnittmuster an. Bald hatte sie die ersten Brustbeutel und Platzdeckchen fertig. Doch der Jeansberg war nur minimal geschrumpft. „Wenn ich alles selbst verarbeitet hätte, wäre ich bis zum Renteneintritt nicht fertig geworden“, erzählt Sevindim. Also machte sie sich auf die Suche nach einem Produzenten. In Deutschland fand sie keinen passenden Partner – dafür aber in Polen. Sevindim wollte den Betrieb besser kennenlernen und besuchte ihn vor Ort. „Die Arbeits- und Produktionsbedingungen dort waren sehr gut“, erzählt die Unternehmerin. Außerdem hielt sich der CO2-Ausstoß beim Transport in Grenzen. Und deshalb lässt sie die „Skarabea“- Produkte nun in Polen herstellen.
Markt im Blick – flexibel in der Produktauswahl
Der Partner verarbeitet gerade die fünfte und letzte Tonne. Gaye Sevindim muss bald nachbestellen. „Aber diesmal werde ich nicht so eine große Lieferung in Auftrag geben“, sagt sie und lacht. Nach mehr als drei Jahren am Markt kann Sevindim auch sagen, was läuft: Handytaschen gehen bei „Skarabea“ gut, Laptoptaschen hingegen weniger. Deshalb möchte sie das Sortiment anpassen – und so noch mehr Jeans eine zweite Chance geben.