Ein echter Drahtseilakt
Der Draht stapelt sich tonnenweise in den Lagerregalen, Metall klappert, Maschinen rauschen und brummen. „Das hier nennen wir den Grobzug“, ruft Dr. Albrecht Borner über den Lärm hinweg. „Selbst richtige Drahtzieher lachen sich darüber kaputt, denn bei den meisten anderen ist das schon der Feinzug.“ Doch wo andere aufhö- ren, fängt die Hermann Fliess & Co. GmbH erst an. Die Duisburger sind Spezialisten für komplizierte Fälle: Ob Gaspipelines in der Nordsee, riesige Windtürme oder Dampfkessel von Kraftwerken mit Innentemperaturen von bis zu 600 Grad Celsius, hier sorgt man dafür, dass zusammenhält, was zusammengehört – mit Schweißdrähten, die auch unter Extrembedingungen größten Belastungen standhalten.
Eine Tonne pro Schweißnaht
„Wir sind die kleine Apotheke, die Sachen macht, die große Hersteller nicht machen wollen“, erklärt der 60-jährige Borner, technischer Leiter und Prokurist in Personalunion. „Nicht die große Masse mit festgelegten Produktionsparametern, sondern etwas kompliziertere Werkstoffe mit großem Know-how.“ Dreiviertel des gesamten Marktes, vom Treppengeländer bis zur Brücke, werden mit Schweißdrähten abgedeckt, die dem Standard entsprechen. Für Sonderprojekte ruft man in Duisburg an. Allein für die vier Nordstream-Gaspipelines hat das Familienunternehmen, das mittlerweile in vierter Generation geführt wird, mindestens die Hälfte aller Schweißdrähte geliefert. „Bei Windtürmen zum Beispiel haben die Rohre alle sieben Meter eine Rundnaht“, weiß der Ingenieur. „Und jede Naht wiegt eine Tonne.“
Die Maschinen, die solche Schwergewichte produzieren, kommen überraschend kompakt daher. Ein paar Dutzend Meter lang und gerade mal schulterhoch sind die neun Produktionsstraßen, die sich auf zwei Fabrikhallen in Hafennähe verteilen. Durch Sichtfenster kann man verfolgen, wie aus der matten Rohware vom Stahlwerk nach und nach ein kupferglänzendes Edelprodukt wird. Entscheidend für die Qualität des Schweißdrahts ist die jeweilige Legierung, für die das Stahlwerk von den Duisburgern ein genaues „Kochrezept“ bekommt, um die ideale Kombination aus Festigkeit und Zähigkeit zu erreichen.
„Wir sind die kleine Apotheke, die Sachen macht, die große Hersteller nicht machen wollen.“
Bei sogenanntem höchstfestem Stahl, wie er zum Beispiel im Mobilkranbau angewendet wird, spielt aber auch das Gewicht eine entscheidende Rolle. Denn ein Kran, der selbstfahrend zu seinem Einsatzort muss, darf nicht zu schwer für die Straße sein und muss trotzdem enorme Lasten heben können, teils über tausend Tonnen.
Wie Teig durch die Spritztüte
Das Problem: Der Walzdraht vom Stahlwerk ist dick und schwer. In riesigen Rollen liegt die Rohware in den Regalen, eine einzelne Spule bringt 1,5 Tonnen und damit locker das Gewicht eines durchschnittlichen Autos auf die Waage. Damit der Draht dünner und auch runder wird, sind verschiedene Arbeitsschritte notwendig. Von einer Art Spindel wird der Draht abgewickelt und in eine von vier Drahtziehmaschinen gezogen. Mit Schleifbändern wird zunächst grob die Oberfläche des Stahls gereinigt und danach die sogenannte Ziehseife aufgetragen, die dafür sorgt, dass der Draht möglichst reibungslos durch den trichterförmigen Ziehstein gezogen werden kann.
Wobei der Begriff des Drahtziehens eigentlich irreführend ist, denn durch die Zugkraft alleine würde der Stahl schnell reißen. Entscheidend ist der Trichter des Ziehsteins, der als eine Art Nadelöhr vor dem Draht liegt: Weil der vergleichsweise dicke Draht durch das kleinere Loch muss, sorgt der allseitige Druck dafür, dass der Draht dünner und damit auch länger wird. Wie bei einer Rolle Teig, die durch die Spitze einer Spritztüte gepresst wird.
„Unsere Drahtzieher sind handwerklich sehr gefordert und müssen viel Know-how haben.“
Der Stahl lässt das erstaunlich leise über sich ergehen. Beim ersten Grobzug, wo aus 5,5-Millimeter-Stahl schnell 5,1 Millimeter werden, sorgen vor allem die vorgelagerten Schleifanlagen für Getöse. Der Feinzug in der zweiten Fabrikhalle stört kein normales Gespräch mehr. Streng überwacht wird hier das Verfahren so lange wiederholt, bis der vom Kunden gewünschte Durchmesser erreicht ist. Schlanke 0,8 Millimeter können das sein, die am Ende, hübsch verkupfert, im Logistikbereich auf der anderen Straßenseite auf handliche, tellergroße Spulen gewickelt werden. Oder mit anderen Worten: Einen fünf Kilometer langen Draht könnte man nach der größtmöglichen Umformung fast auf der 250 Kilometer langen Strecke von Duisburg bis Frankfurt auslegen – ein Längenzuwachs von bis zu 4.800 Prozent.
Echte Handwerksarbeit
Um solche Ergebnisse zu erzielen, ist in der Fertigung noch viel Handarbeit gefragt. „Unsere Drahtzieher sind handwerklich sehr gefordert und müssen viel Know-how haben“, sagt Borner. Gleichzeitig schöpft das Traditionsunternehmen, das der Urgroßvater von Geschäftsführer Alexander Fliess 1915 ins Leben rief, aus einem reichen Erfahrungsschatz. In den Gründungsjahren „war es noch ziemlich exotisch, wenn man schweißen konnte“, berichtet Borner, der selbst schon seit über 20 Jahren im Unternehmen tätig ist. „Und in den fünfziger Jahren war das Metallschutzgasschweißen – etwas übertrieben formuliert – noch Science Fiction.“
Doch Fliess etablierte sich schnell als Hersteller von umhüllten Stabelektroden und Gasschweißstäben, exportierte schon in den zwanziger Jahren seine Produkte. Nur im Jahr 2009 mussten die Drahtzieher einen Rückschlag hinnehmen: Nach einem Großbrand stand die gesamte Produktion ein Vierteljahr still, der Grobzug sogar anderthalb Jahre. Am historischen Standort im Neuenkamp, wo die Fabrik schon seit 1923 stand, wurde die Fertigung wieder aufgebaut.
Weltweiter Einsatz
Inzwischen besitzt die Firma mehrere Patente, macht erste Versuche mit sogenanntem Green Steel, also möglichst klimafreundlich produziertem Material, und hat im Forschungsauftrag eines Kunden selbst einen völlig neuen Werkstoff entwickelt, der aktuell als Prototyp getestet wird. Tatsächlich sei die Metallurgie eine Kernkompetenz Zentraleuropas, meint Borner: „Wir Deutschen können nicht nur Auto. Weltweit kommen Mobilkrane und Baumaschinen aus Deutschland.“ Und so kommen auch die Kunden für die Schweißzusätze „made in Germany“ aus der ganzen Welt: Von Australien bis Südafrika, von China bis Amerika schätzt man, dass Fliess dank einer peniblen Qualitätssicherung jedes Stück Draht bis zur Ader im Stahlwerk rückverfolgen kann.
Zum Mond und wieder zurück
Der heimische Markt macht aktuell etwa ein Drittel des Geschäfts aus, vor allem die steigenden Investitionen in die Infrastruktur wirken sich positiv auf die Auftragslage des Familienunternehmens mit 85 Mitarbeitern aus. Und so verlassen pro Jahr 10.000 Tonnen Stahl das Werksgelände. Das sind bis zu 750.000 Kilometer Schweißdraht – damit könnte man ein Seil bis zum Mond und wieder zurück spannen.