Endstation Solidarität
Als der Vater, völlig betrunken, zum ersten Mal seine Mutter schlug, war Tom acht Jahre alt. Mit zehn wurde Tom aus dem Kinderheim geworfen, weil er seine Angst und den seelischen Schmerz mit Drogen betäubte. Als Tom zwölf wurde, verpasste seine Mutter einen Besuchstermin zu viel. Tom rastete aus, schlug einen anderen Jungen krankenhausreif. Das neue Heim reichte ihn weiter ans nächste.
Die letzte Hoffnung
Mit 14 landete Tom auf der Straße, ohne Familie, ohne Schulabschluss, ohne Perspektive. Tom gibt es nicht. Doch er steht sinnbildlich für viele Lebensläufe, die Daniel S. schon begegnet sind. Für viele Jugendliche ist der Sozialarbeiter die letzte Hoffnung. Bei ihm in der Duisburger Werkstatt Solidarität landen die Kids, die andere schon lange aufgegeben haben. „Kids, die schon durch alle Stationen durch sind“, sagt er. „Nach uns gibt es nicht mehr viel.“
Die Werkstatt Solidarität leistet als anerkannter Träger der Jugendhilfe stationäre und ambulante Erziehungshilfe durch Straßenbetreuung, intensiv betreutes Einzelwohnen und Nachbetreuung. Konkret bedeutet das: Hier klopfen die Jugendämter an, wenn sie nicht mehr wissen, wo sie ein Kind noch unterbringen können.
Das Vertrauen gewinnen
Daniel zieht dann los, klappert die Hotspots in der Innenstadt ab, wo die Kids rumhängen, versucht, sich „reinzuschleichen“, wie er sagt. Mit seiner Baseballkappe und dem Kapuzenpulli wirkt der 34-Jährige jünger, als er ist. Er gibt den Jugendlichen etwas Geld, geht mit ihnen ein paar Pommes essen, gewinnt Vertrauen. „Wenn die Kids mit acht ins Heim kommen, dann haben sie mit zwölf ein so dickes Fell, dass man nur noch schwer durchkommt“, weiß er. „Dabei fühlen sie sich einfach nur klein, alleingelassen. Die wollen auch nur in den Arm genommen und geliebt werden.“
Emotionale Geschichten könnte Daniel viele erzählen. Aber er tut es nicht. Er will das Vertrauen seiner Schützlinge nicht missbrauchen. Stattdessen lacht er viel. Er sagt Dinge wie „hey, yo“ und „real talk“, wenn es ernst wird. Er ist cool, ohne hart zu sein – die Art Vorbild, die wohl kaum eines der Kids hatte. Und er ist immer da. Gemeinsam mit 14 Duisburger Kollegen ist er 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche im Dienst. Nicht selten hat er es sich gerade auf dem Sofa gemütlich gemacht, da ruft die Polizei an, weil eines seiner Kids rumgepöbelt hat. Oder einer der Jugendlichen hat seinen Schlüssel verloren, die Bahn fährt nicht mehr – egal, Daniel kümmert sich.
Jeder ist willkommen
30 Jugendliche, meist zwischen 14 und 16 Jahre alt, werden aktuell von der Werkstatt Solidarität in Duisburg betreut: auf der Straße später dann in der eigenen Woh-nung und beim Straßenschulprojekt, das den Kids einen Abschluss ermöglicht. „Bei uns wird niemand weggeschickt“, das ist Daniel wichtig. Die Sozialarbeiter gehen ohne Forderungen auf die Jugendlichen zu. Alle Regeln, die in der „Werkstatt“– für die Kids Schule und Treffpunkt – im Duisburger Norden gelten, haben sie selbst aufgestellt. „Keine Waffen“ und „Keine Gewalt, weder durch Worte noch durch Taten“ kann man hier lesen.
„Es macht viel mit dem Selbstbild, wenn immer alle sagen: Du bist schlecht, dumm, hässlich“, sagt Daniel. Er ist das Gegengewicht, zeigt Verständnis, ohne Fehlverhalten gutzuheißen. Er sei da hineingewachsen, so wie er auch erst über Umwege bei der Werkstatt Solidarität gelandet ist: Ausbildung zum Bürokaufmann, Abitur bei der Bundeswehr, dann die Laufbahn als Erzieher und die Zusatzqualifikation zum Anti-Gewalt- Trainer.
"Bei uns landen Kids, die schon durch alle Stationen durch sind. Nach uns gibt es nicht mehr viel."
Erst seit 2017 arbeitet er als Straßensozialarbeiter – mit guten und schlechten Erfahrungen: Mehrfache Gewalttäter kümmerten sich rührend um seine Hunde, aber auch die Reifen seines Autos wurden schon zerstochen. Da ist der Frust über die Politik, die immer wieder Gelder streicht, und über die Leute, die am liebsten wegsehen. Da sind die furchtbaren Schicksale, die er trotz professioneller Distanz nicht immer ausblenden kann und mit nach Hause nimmt zu seiner kleinen Tochter.
Ohne Zweifel der beste Job
Trotzdem sagt er, das sei der beste Job, den er je hatte. Denn manchmal gibt es auch ein Happy End. Wenn einer wie Tom zum Beispiel nein sagt zu den Drogen und seinen Schulabschluss macht. „Da könnte ich Luftsprünge machen und muss mir dann selbst sagen: Das ist nicht der Nobelpreis – aber es ist wundervoll, ein Teil davon zu sein.“