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Solidarität tut weh.

Seit dem Ausbruch des Corona-Virus ist ein Wort in aller Munde: Solidarität. Aber was genau soll das eigentlich sein? Professor Achim Goerres, Politikwissenschaftler und Solidaritäts-Experte an der Universität Duisburg-Essen, erklärt, warum Solidarität nicht immer gut ist und Hilfe wehtun muss.
Die Infektionsgefahr beim Corona-Virus ist hoch. Wie steht’s mit der Hilfsbereitschaft – ist Solidarität ansteckend?

Was bei der Corana-Pandemie gut ist im Sinne der Bereitschaft etwas für andere Menschen zu tun: Die meisten Leute denken, niemand kann etwas dafür, wenn jemand gefährdet ist oder sogar krank wird. Wir haben das Gefühl, andere kommen unverschuldet in Notlagen – das stärkt die Bereitschaft zu helfen. Es gibt allerdings unterschiedliche Motivationen für Solidarität: Ich kann dem Nachbarn helfen, weil ich dadurch ein gutes Gefühl bekomme. Oder ich investiere in eine Art Austauschvertrag mit der Erwartung: Wenn ich dir etwas Gutes tue, dann tust du mir auch irgendwann etwas Gutes.

Professor Achim Goerres, Politikwissenschaftler und Solidaritäts-Experte an der Universität Duisburg-Essen
Was genau ist denn Solidarität überhaupt?

Solidarität ist die individuelle Bereitschaft etwas für andere zu tun, ohne in dem Moment sofort etwas zurückzubekommen. Man kann Geld geben, Zeit investieren oder auf gewisse Vorzüge verzichten. Wichtig ist: Es muss mir in irgendeiner Form wehtun.

Warum brauchen wir als Gesellschaft Solidarität?

Es gibt Studien aus der Evolutionsbiologie, die zeigen, dass wir uns als Menschen nur so erfolgreich entwickeln konnten, weil wir in Gruppen kooperieren. Das fing beim gemeinsamen Jagen an und geht bis zu den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts – Solidarität führt also nicht immer nur zu Gutem. Aber wir brauchen diese Solidarität, um in einer komplexen Gesellschaft mehr für uns selber rauszukriegen.

Die soziale Solidarität ist allerdings sehr wechselhaft, weil Menschen auf bestimmte Kontextbedingungen reagieren. Am besten funktioniert es deshalb, wenn Solidarität in politische Institutionen gegossen wird. Dazu gehören im Wohlfahrtsstaat zum Beispiel die Kranken- und Rentenversicherung.

Wie wichtig Solidarität ist, erleben wir in der Corona-Krise. Welche Bedeutung hat Solidarität im normalen Leben, außerhalb solcher Extremsituationen?

Solidarität kann man sich in Kreisen vorstellen. Der engste Kreis ist die Familie, dann kommen gute Freunde, dann die Nachbarn usw. Innerhalb der Familie ist die Solidarität am stärksten, da ist sie nur den wenigsten Menschen bewusst.

Zwischen Menschen gibt es aber Unterschiede in ihrer Grundbereitschaft zu solidarischem Handeln, daran ändert auch Corona nichts. In Extremsituationen erleben wir zwar einen Anstieg der Gesamtsolidarität, wir müssen aber davon ausgehen, dass wir danach wieder auf das Grundniveau zurückfallen. Es ist nicht so, dass wir dauerhaft in einer besseren, hilfsbereiteren Gesellschaft leben.

Gibt es denn eine Möglichkeit, Solidarität langfristig zu steigern?

Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder man schafft politische Institutionen wie eine Krankenversicherung. Was auch funktioniert, sind kleine Gruppen, in denen sich eine höhere Solidarität herauskristallisieren kann. Wenn Eltern einer Schulklasse zum Beispiel zunehmend miteinander interagieren und sich immer mehr gegenseitig helfen, dann entsteht so etwas wie eine Gruppennorm der gegenseitigen Hilfe. Mit anderen Worten: Man fällt in einer kleineren Bezugsgruppe blöd auf, wenn man als einziger nicht hilft.

Kohlekrise, die Brücke der Solidarität – sind die Menschen im Ruhrgebiet solidarischer als anderswo?

Im Ruhrgebiet gab es in den sechziger und siebziger Jahren wichtige Akteure wie die Gewerkschaften, die ein sehr starkes Gruppenbewusstsein geschaffen haben. Da ist es einfacher gegenseitige Hilfe zu organisieren. Durch den Strukturwandel ist das jedoch verloren gegangen.

Was heute noch in Duisburg interessant ist: Es gibt hier sehr unterschiedliche Stadtteile und große soziale Unterschiede in einer Stadt. Das heißt, die Erfahrung, die Duisburgerinnen und Duisburger mit ganz anderen Lebenslagen machen, ist sicherlich größer als in Städten, die eher einheitlich sind. In Bezug auf Solidarität kann das aber in beide Richtungen ausschlagen: Nur weil ich mehr Kontakt zu Leuten aus anderen, weiteren Kreisen habe, heißt das nicht, dass ich mich mit ihnen solidarischer verhalte.

Sie beginnen im Herbst das Projekt „Politsolid“, mit dem Sie die politische Solidarität erforschen wollen. Dazu gehört auch ein Feldversuch mit der Stadt Duisburg. Was passiert dabei und können Duisburger mitmachen?

In der Duisburger Politik gibt es viele Beispiele dafür, dass sich Menschen solidarisch verhalten, es aber oft gar nicht wissen. Etwa bei den Kita-Gebühren, die in den meisten Kommunen einkommensgestaffelt sind: Einkommensstarke Familien zahlen höhere Beiträge als einkommensschwache Familien – es findet also eine Umverteilung statt. Ich will herausfinden, was passiert, wenn man den Leuten klarmacht, dass hier Solidarität stattfindet. Finden sie das System dann besser oder schlechter? Verändern sich ihre Einstellungen gegenüber den anderen? Wir sprechen hier aber von einem Fünf-Jahres-Projekt und die Zusammenarbeit mit der Stadt ist erst für 2023 anvisiert.

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