Blaues Auge? Da lachen wir drüber.
Die rosa Fingernägel stecken in Boxhandschuhen, die Perlenohrringe sind verschwunden. Selbst das schüchterne Lächeln ist einem angriffslustigen Grinsen gewichen, als ihr Sparringspartner sie versehentlich am Kinn trifft. Locker einen Kopf größer ist er als Samira, die sich mit ihrer Mutter darüber streitet, ob sie nun 1,58 oder 1,60 Meter misst. Schnell und kraftvoll sind die Schläge, die er der 15-Jährigen unerbittlich entgegendonnert: ein Kräftemessen ganz nach Samiras Geschmack.
Kampfsport-Königsdisziplin MMA
Samira Kindermann passt in keine Schublade. Zurückhaltendes Mädchen, knallharte Kampfsportlerin. Zehn Weltmeistertitel hat die Duisburgerin im Kickboxen gesammelt, seit dem vergangenen Jahr ist sie auch Deutsche Meisterin in der Kampfsport-Königsdisziplin Mixed Martial Arts (MMA). Kaum jemand in ihrem Alter hat so viel Kampferfahrung wie sie: „Beim Kämpfen nehme ich alles mit, was geht“, sagt sie. Und das kann man durchaus wörtlich verstehen. Seit Samira vier Jahre alt ist, steht sie im Ring. Angefangen hat sie mit klassischem Kung-Fu, dann kam Sportkarate, mittlerweile ist sie beim MMA gelandet – Vollkontakt mit Elementen aus dem Boxsport, Jiu-Jitsu und Ringen. „Ich war ein sehr schüchternes Kind, habe mich immer hinter Mama und Papa versteckt“, erzählt sie. „Meine Eltern wollten mein Selbstbewusstsein stärken. Erst waren wir beim Tanzen, aber das war nichts für mich. Dann haben sie mich hier angemeldet.“ Hier, das ist Samiras zweites Zuhause. Die Kampfsportschule Samonte ist für sie nicht einfach ein Sportverein, es ist eine Familie – und der wahrscheinlich wichtigste Baustein in ihrer sportlichen Karriere. Samira fühlte sich gleich wohl, kam gerne und oft zum Training. So oft, dass ihr Vater irgendwann keine Lust mehr hatte, untätig auf sie zu warten, und selbst mit dem Sport anfing.
Am liebsten jedes Wochenende in den Ring
Die ersten Erfolge ließen nicht lange auf sich warten: Bei der Sportkarate-WM 2017, Samira war gerade acht, holte sie gleich drei Goldmedaillen. „Ich wollte immer mehr, am liebsten wollte ich jedes Wochenende kämpfen“, erinnert sich die Teenagerin. „Für mich ist es das Gleiche wie für andere Tennis oder Hockey: Manche haben Spaß daran, im Tutu rumzuhüpfen, und ich habe halt Spaß daran, mir mit anderen auf die Fresse zu hauen.
„Meine Eltern wollten mein Selbstvertrauen stärken. Erst waren wir beim Tanzen, aber das war nichts für mich. Dann haben sie mich hier angemeldet.“
Heute tut sie das im Boxtraining bei der zweifachen Boxweltmeisterin Nadia Raoui. Seilchenspringen, Liegestütze, Schattenboxen. Schon jetzt ist die Luft warm und schwer vom Schweiß. Samira bewegt sich beinahe gleitend zum treibenden Beat über die Matten, breitbeinig, angespannt. Fast alle im Training sind deutlicher schwerer als sie, die mit ihren 52 Kilo als Strohgewicht durchgeht. Doch je größer und schneller der Gegner, desto mehr Spaß scheint die Teenagerin zu haben. Wer sich gut schlägt, kassiert am Ende ein Grinsen – so breit, dass der pinke Mundschutz zu sehen ist.
Samira misst sich gerne mit den Jungs, kämpft am liebsten gegen die Erwachsenen. Außerhalb der Kampfsportwelt klopfen Gleichaltrige schon mal blöde Sprüche, von den Erwachsenen bekommt sie nur bewundernde Blicke. „Eigentlich ist Samira gar nicht auf Krawall gebürstet, sie hat sich nie geprügelt“, sagt ihre Mutter, die sich insgeheim immer eine Eiskunstläuferin als Tochter gewünscht hat. Doch nun steht sie am Ring und kann die Kämpfe ihrer Tochter nicht filmen, weil ihre Hand vor lauter Angst zu sehr zittert. MMA, im Käfig ausgetragen, gilt als harter Sport, weil es so viele verschiedene Kampftechniken vereint.
Keine ernsthaften Verletzungen
Schutzausrüstung ist kaum vorhanden. Bei Jugendturnieren soll ein spezielles Regelwerk verhindern, dass die jungen Kämpfer Schaden nehmen: Kicks und Schläge gegen den Kopf sind verboten, auch bestimmte Hebeltechniken. „Im Kampf stehe ich so unter Adrenalin, da spüre ich eh nichts“, sagt Samira. Ernsthaft verletzt war sie noch nie. Ein blaues Auge? „Da lachen wir drüber.“
Training im Sparring
Eine schnelle Gerade, Aufwärtshaken, ein flinker Schritt zurück. Ihren nächsten Sparringspartner treibt Samira regelrecht vor sich her, sie tanzt fast durch den Raum. Dabei sagt sie ganz bescheiden: „Ich habe kein besonderes Talent auf der Matte. Nicht das Talent, sondern die Disziplin hat bei mir rausgestochen. Ich war fleißig.“
Ihr Coach Denis Samonte sieht das freilich anders. „Nach oben gibt’s für Samira keine Grenzen“, sagt er. „Ich kenne kein Mädchen, das mit ihr vergleichbar wäre. Deutschlandweit kann ihr keine Frau das Wasser reichen.“ Und ganz oben, das ist genau der Ort, wo Samira hinwill. Als Amateurin hat sie sich schon einen Namen gemacht, manche von Samiras Social-Media-Posts werden millionenfach geklickt. Doch die Schülerin träumt von einer Karriere als Profi, würde am liebsten gleich mit 18 einen Vertrag beim weltweit größten MMA-Veranstalter, der Ultimate Fighting Championship (UFC), unterschreiben und sich bei internationalen Kämpfen mit den Besten messen. Und den Gürtel holen: World Champion.
Für dieses Ziel trainiert Samira mittlerweile fünfmal die Woche. Zusätzlich wird sie am Steinbart-Gymnasium als Teil der NRW-Sportschule Duisburg individuell gefördert: zweimal die Woche Athletiktraining, Muskeltraining, Ernährungstagebücher – teilweise in der „Nullstunde“, noch vor dem eigentlichen Unterrichtsbeginn.
In der Kampfsportschule jobbt Samira nebenbei als Jugendtrainerin. Kämpfen ist ihr Leben. „Ich kann mir nichts anderes für mich vorstellen“, sagt sie. Trotzdem will sie erstmal ihr Abitur machen und, wenn Körper und Kondition auf der Matte nicht mehr ausreichen, vielleicht Grundschullehrerin werden.