Ein Maßanzug fürs Auto
Vom Motoröl bis zur Zigarrenkiste gibt es so einige Duisburger Exportschlager, aber wohl keiner ist weltweit so erfolgreich: In nahezu jedem modernen Auto auf der Welt fährt ein kleines Stückchen Duisburger Innovationskraft mit. Ob Ford, Fiat oder Mercedes, sogenannte Tailored Blanks, lasergeschweißte Leichtbauplatinen, kommen mittlerweile bei jeder Marke im Karosserie- und Fahrzeugbau zum Einsatz. Entwickelt wurden die maßgeschneiderten Autobleche vor gut 40 Jahren von der Thyssen Stahl AG – eine stahlharte Idee, die aus dem Ruhrgebiet heraus weltweit Karriere machte. Inzwischen produzieren mehrere Firmen die Leichtbauteile für die Automobilindustrie, doch Baosteel Tailored Blanks, der globale Marktführer, sitzt noch immer auf dem Werksgelände in Duisburg-Hüttenheim.
Maßgeschneiderte Produktion
Hinter Tor 9, irgendwo zwischen Bahnschienen und Lkw-Fahrspuren, stehen drei große Fabrikhallen, in denen die Maßanzüge fürs Auto gefertigt werden. Im Eingangsbereich zeigt eine bunte Rohkarosse, wie viele Einsatzmöglichkeiten es für Tailored Blanks – das englische „tailored“ bedeutet „maßgeschneidert” – überhaupt gibt: Über 50 lasergeschweißte Bauteile sind in einer Fahrzeugkarosse möglich, leuchten hier orange, rot, lila. Türinnenbleche, Längs- und Dachträger, bei E-Autos auch Batteriekästen können aus den Stahl- oder Aluminiumplatinen bestehen. „Bei allen crashrelevanten Teilen kommen wir zum Einsatz“, sagt Geschäftsführer Dr. Christian Both. Denn die Leichtbaulösungen erfüllen nicht nur alle Sicherheitsanforderungen, zum Teil verbessern sie sogar die Crashperformance der Fahrzeugkarosserie.
Der Vorteil: Mehrere Bleche mit unterschiedlicher Dicke, Festigkeit oder Oberflächenbeschichtung werden per Laserstrahl zu einem Einzelblech, dem Tailored Blank, verschweißt. So sitzt der richtige Werkstoff an der richtigen Stelle, Zonen mit hoher Belastung werden verstärkt, Bereiche wie die berühmte Knautschzone bestehen aus weicheren Blechen, die sich verformen und die Energie eines Aufpralls absorbieren.
Optimierungen reduzieren Gewicht
Zusätzliche Verstärkungen oder Überlappverbindungen werden überflüssig und damit sparen die Autobauer nicht nur Material, sondern auch Gewicht. Für den Autofahrer bedeutet das am Ende einen geringeren Kraftstoffverbrauch – ein Faktor, der angesichts strengerer CO2-Grenzwerte immer mehr an Bedeutung gewinnt. Zwar lassen sich durch ein einzelnes Bauteil nur einige hundert Gramm einsparen, aber je nach Fahrzeug fällt die Masse der eingesetzten Tailored Blanks am Ende durchaus ins Gewicht.
„Mit thyssenkrupp Steel Europe um die Ecke sitzen wir nah an der Quelle.“
Rund 82.000 Tonnen Stahl – das entspricht ungefähr achtmal dem Eiffelturm – hat allein das Werk in Duisburg im vergangenen Jahr verarbeitet und damit etwa fünf Millionen Fahrzeuge in Deutschland, Frankreich und Osteuropa ausgestattet. Zusammen bringen es die 17 Produktionsstandorte des Unternehmens in Europa, Asien und Nordamerika in ihrer Branche auf einen Marktanteil von knapp 40 Prozent; es gibt nahezu keinen großen Autobauer, der nicht zum Kundenstamm gehört.
Führende Innovationen
Doch vor allem in Sachen Innovationen haben die Duisburger nach wie vor die Nase vorn: Fast alle Leichtbauprodukte, die heute im automobilen Karosseriebau verwendet werden, wurden am Rhein entwickelt. Dafür arbeitet die Abteilung Forschung und Entwicklung auch mit Universitäten und Forschungseinrichtungen wie der Hochschule Ruhr West oder der RWTH Aachen zusammen. „Die Batteriekästen von Elektroautos kommen bei uns gerade in den Fokus“, verrät Maschinenbauingenieur Both. „Und es wird bald auch Produkte aus CO2-reduziertem Stahl geben.“ Das Material dafür stammt unter anderem aus dem Hause thyssenkrupp Steel Europe.
In Duisburg-Bruckhausen begann der Stahlhersteller aus dem Ruhrgebiet schon 1985 mit der Serienproduktion von Tailored Blanks, sieben Jahre später eröffnete ein Werk in den USA und 1997 zog das im Jahr zuvor als Thyssen Fügetechnik gegründete Unternehmen an den neuen Standort in Hüttenheim, weil die Produktionskapazität nicht mehr ausreichte. Dann ging es Schlag auf Schlag: neue Standorte in Mexiko, Italien, China. Zwar hat der einstige Mutterkonzern das Unternehmen bereits 2013 an den chinesischen Stahlkonzern Wuhan Iron & Steel Group, die heutige Baosteel Gruppe, verkauft, doch der neue Eigentümer weiß um die Standortvorteile des Firmenhauptsitzes in Duisburg: Die Logistikanbindung ist gut, Forschungsinstitutionen und Kunden aus der Automobilindustrie sind schnell erreichbar. Und „mit thyssenkrupp Steel Europe um die Ecke sitzen wir als Baosteel Tailored Blanks nah an der Quelle“, sagt Both.
Auch viele der 216 Mitarbeiter kommen ursprünglich aus dem thyssenkrupp-Konzern. Zwei von ihnen manövrieren gerade ein tonnenschweres Schneidwerkzeug, das an einem Kran baumelt, durch die Fabrikhalle. Das Oberteil, das einem überdimensionalen Stempel ähnelt, passt genau in die Matrize auf dem Unterteil. „Man muss sich das ein bisschen wie eine Schere vorstellen, nur mit einem sehr kleinen Winkel“, erklärt Both, wie der Maßanzug fürs Auto entsteht. Das Blech für die Tailored Blanks wird zwischen die beiden Teile gespannt, und die Riesenschere schneidet aus, was später eine B-Säule oder ein Türinnenblech werden soll.
Vollautomatisch geht es weiter zur Laserschweißanlage, die im Zehn-Sekunden-Takt aus mehreren Blechen eins macht. Roboterarme flitzen hin und her, es quietscht und rumst und pfeift. Den Schweißprozess können die Mitarbeiter als flackernden SchwarzWeiß-Film live am Bildschirm mitverfolgen. Zusätzlich prüft das Online-Qualitätssicherungssystem den Produktionsprozess auf Herz und Nieren: Verschiedenfarbige Kurven zeichnen auf den Monitoren in Echtzeit nach, ob die Qualität der Naht stimmt. Ein bisschen erinnert das tatsächlich an die Vitalzeichen eines Patienten auf der Intensivstation.
Selbstbewusstsein am Standort
Auch ein hauseigenes Werkstoffprüflabor ist in einer der Fabrikhallen eingerichtet, Produkttests werden unter Praxisbedingungen durchgeführt. Die Sorge vor Wettbewerb aus Fernost? Unbegründet, betont Both. „Für unsere Kunden waren wir immer thyssenkrupp, da hat der Verkauf schon Verunsicherung ausgelöst“, berichtet der Ingenieur, der schon seit 24 Jahren im Unternehmen tätig ist, von der schwierigen Übergangszeit. „Aber sie haben gemerkt, dass wir immer noch das gleiche Unternehmen sind. Wir sind ein deutsches Unternehmen, das einen chinesischen Eigentümer hat – Baosteel Tailored Blanks.
“Und der, heute größter Stahlhersteller der Welt, investierte erst einmal kräftig in die Zukunft: Über hundert Meter misst die moderne Schweißanlage, mit der am Rhein seit einigen Jahren auch sogenannte Tailor Welded Coils produziert werden können – lasergeschweißte Stahlbänder aus verschiedenen Dicken, mit unterschiedlicher Güte oder Oberflächenbeschaffenheit, teils kilometerlang und wieder eine Weltneuheit made in Duisburg. Innovationen, die sich inzwischen auch wieder auszahlen: So konnte Baosteel Tailored Blanks 2023 mit rund 140 Millionen Euro Umsatz sein bestes Ergebnis der vergangenen zehn Jahre verbuchen.