Genuss-Offensive im Stadion
Holger Gesemanns Arbeitstag beginnt, wenn seine Gäste noch schlummern. Sonntags um 6 Uhr steht der 54-Jährige bereits im Bauch der Duisburger Arena. Es ist Spieltag in der 2. Fußball-Bundesliga. Der MSV Duisburg erwartet 13.000 Zuschauer. Holger Gesemann kocht den Fußballfans ihr Mittagessen. Er arbeitet als Küchenchef bei Feinkost Kersten – dem Caterer in der Arena.
Gesemann studiert nochmal den Speiseplan, der in den VIP-Bereichen ausliegt. Als Vorspeise tischt Feinkost Kersten heute Roastbeef auf. Rinderbraten in Sauce als Hauptgang. Erdbeertiramisu als Dessert. Und die klassische Currywurst gibt es als Halbzeitsnack. Dass in der Stadionküche alles eine Nummer größer ist als im Restaurant, verdeutlicht der Duisburger mit Zahlen: „Wir kochen heute jeweils 160 Liter Rinderbraten- und Tomatensauce, höhlen 1.000 Paprikaschoten aus und schieben 1.000 Hähnchenkeulen in den Ofen.“
Um den Hunger nach dem Spiel zu stillen, bereitet das Küchenteam noch eine Minestrone zu. Jens Person taucht einen Schneebesen von der Größe eines Baseballschlägers in einen Bottich. Er rührt die dickflüssige Suppe um. Holger Gesemann nutzt die Szene, um Jens Person einen Spruch zu drücken. „Hol mal einer ’ne Kamera“, sagt der Küchenchef. „Sonst glaubt morgen ja keiner, dass der Kollege richtig arbeitet.“ Der Mann an der Minestrone lacht. „Blöde Sprüche gehören zur Arbeit am Kochtopf einfach dazu“, sagt Jens Person.
„Alles hat damit angefangen,dass mein Opa mit dem Pferdewagen durch Neudorf gezogen ist.“
Ein großer Mann in weißem Hemd und Jeans betritt die Küche. Er klatscht beim Personal ab. „Und Chef, wie geht’s heute aus?“, fragt Holger Gesemann. Der Küchenchef hat selber auf ein 3:1 für den MSV getippt. Doch sein Chef, Oliver Kersten, guckt skeptisch. „Mal schauen“, sagt er. Wobei: Mit dem Schauen ist das so eine Sache. „In Ruhe Fußball gucken geht meistens nicht“, erklärt Oliver Kersten. „Es gibt während der 90 Minuten immer was zu tun.“ Jetzt, vier Stunden vor dem Anpfiff, nimmt er sich aber Zeit. Zeit, um die Geschichte von Feinkost Kersten zu erzählen. „Wir sind ein Familienunternehmen in vierter Generation“, sagt der 37-Jährige. „Ich habe vor zwölf Jahren von meinem Vater übernommen. Von dem Herrn da drüben.“ Oliver Kersten deutet auf einen Mann im roten Pullover und winkt ihn zu sich. Hans Kersten kommt zum Tisch. Als er hört, dass es um die Familiengeschichte geht, sprudelt es aus ihm heraus. „Alles hat damit begonnen, dass mein Opa mit einem Pferdewagen durch Neudorf gezogen ist und Lebensmittel verkauft hat“, sagt der 72-Jährige. 1913 eröffnete Johann Kersten einen Laden an der Averdunkstraße. 1950 übernahm Johann Kersten junior die Geschäfte. 1974 war dann Hans Kersten an der Reihe.
Er verkaufte Lebensmittel an mehreren Standorten, eröffnete zudem einen Feinkostladen am Salvatorweg. „Zum Catering bin ich eher durch Zufall gekommen“, sagt Hans Kersten. Die Firma Züblin benötigte für einen Empfang Schnittchen. Sie fragte bei Hans Kersten an. Der stellte ein Frühstück zusammen. „Die Firma hat uns weiterempfohlen und so haben wir in der Branche Fuß gefasst“, sagt der Buchholzer.
Feinkost Kersten übernahm die Bewirtung auf dem Personenschiff „Karl Jarres“, das durch den Duisburger Hafen schipperte. „Dadurch kannten uns auch die wichtigen Leute der großen Firmen“, sagt Hans Kersten. „Viele haben uns für ihre Veranstaltungen gebucht.“ Das Unternehmen war jetzt eine Nummer in der Catering-Branche. Feinkost Kersten belieferte Hochzeiten, Geburtstage, Firmenfeiern, beköstigte aber auch die Gäste im Theater am Marientor oder im Gasometer in Oberhausen.
2006 zog sich Hans Kersten zurück, Oliver Kersten stand fortan in der Verantwortung. „Das lief zu Beginn noch etwas ruckelig“, gibt der aktuelle Chef zu. „Ich war damals vielleicht noch zu unerfahren.“ Doch Oliver Kersten fuchste sich in die neue Aufgabe hinein und bekam bald einen Auftrag, der das Unternehmen auf eine neue Ebene hievte.
September 2013: Der MSV hatte seinem alten Caterer gekündigt. Feinkost Kersten erhielt den Zuschlag als Nachfolger. „Als wir das erfahren haben, waren es gerade mal vier Tage bis zum nächsten Spiel“, sagt Oliver Kersten. Er brauchte 100 neue Mitarbeiter für Service, Teamleitung und Logistik, musste die Abläufe verinnerlichen. „In der Zeit war an Schlaf kaum zu denken“, sagt der Geschäftsmann.
„Die Currywurst war leider kalt.“
Pünktlich zum Heimspiel gegen Darmstadt 98 hatte Oliver Kersten das Personal zusammen. Sein Team transportierte vom Firmensitz in der Innenstadt das Geschirr, Besteck und die Lebensmittel zur Arena. Die Hauruck-Aktion schien zu gelingen. Doch nach dem Spiel kam das böse Erwachen. „Die Currywurst war leider kalt“, erzählt Oliver Kersten. Heute kann er über den Fauxpas lachen. Schließlich läuft es im Unternehmen: Feinkost Kersten hat mehrere Tausend Aufträge im Jahr – vom kleinen Frühstück bis zur großen Galaveranstaltung. Der Umsatz lag 2017 bei rund sechs Millionen Euro. Aktuell beschäftigt der Caterer 500 Minijobber und 28 festangestellte Mitarbeiter.
Natascha Sopart gehört seit 13 Jahren zum Team. Anfangs kellnerte sie, mittlerweile arbeitet die 33-Jährige als Personalleiterin. Das heißt: ein Team von mehr als 50 Mitarbeitern koordinieren, Servicekräfte beim Buffet und im Thekenbereich einteilen. Sopart beugt sich über eine Liste, hakt mit dem Kugelschreiber die Namen der eingetroffenen Kollegen ab, verteilt Arbeitskarten. Zwischendurch klingelt ihr Handy. „Eine kurzfristige Absage“, sagt Natascha Sopart nach dem Telefonat. Sie muss umplanen, Personal in andere Bereiche verschieben. „So was macht den Job natürlich stressig“, erklärt Sopart. „Aber gerade die Tage, an denen Großveranstaltungen anstehen, machen auch Spaß.“
Zwischendurch bleibt noch Zeit für einen kurzen Plausch mit Anne Stringa. Die beiden Frauen kennen sich, haben schon viele Fußballspiele und Firmenveranstaltungen zusammen gemeistert. Anne Stringa (56) ist Buffetleiterin bei Feinkost Kersten. Sie mustert einen Wagen, auf dem später das Essen drapiert wird. Der Abstand zwischen zwei Schälchen gefällt Anne Stringa nicht, sie schiebt eines zehn Zentimeter nach links. „Soll ja vernünftig aussehen“, sagt sie. Anne Stringa achtet auch darauf, dass ausreichend saubere Teller, Messer und Gabeln auf dem Wagen stehen. „Und wenn sich ein Gast mal mit Sauce bekleckert hat, helfen wir ihm auch weiter“, erklärt sie.
Es ist 12 Uhr. 90 Minuten bis Anstoß. Die Gäste passieren den Eingang, bahnen sich den Weg zum Buffet und zur Theke. Die Genuss-Offensive im Stadion beginnt. Alena Kühn hat keine Zeit zum Essen. Die Projektleiterin für Events huscht die Treppe hinauf, verschafft sich einen Überblick im VIP-Bereich, telefoniert mit Kollegen. Feinjustierung kurz vor dem Anpfiff. In einer kurzen Verschnaufpause schaut die 24-Jährige auf ihren Schrittzähler. 10.000 hat sie heute schon gemacht. „Ich bin auch schon mal bei 22.000 gelandet“, sagt Alena Kühn.
Die wuseligen Tage sind aber die, die Alena Kühn besonders gern mag. „Unter der Woche sitze ich viel im Büro. Das ist Alltagsgeschäft“, sagt sie. „Bei den großen Veranstaltungen erlebe ich dafür immer etwas Neues.“ Alena Kühn spricht über die Fußballspiele, den „Ball der Schifffahrt“ oder die Prinzenkür. „Und ich freue mich jetzt schon wieder auf das Stadtwerke Sommerkino“, sagt Alena Kühn. „Die fünf Wochen gehen zwar an die Substanz. Aber dennoch haben alle großen Spaß an diesem Projekt.“ Die Filme sind für sie allerdings nur ein Hörspiel. Für einen Blick auf die Leinwand bleibt keine Zeit.
Tipp falsch, Menüauswahl richtig
So ergeht es dem Team auch bei Fußballspielen. Von Duisburgs Niederlage erfahren die meisten Mitarbeiter durch Mundpropaganda. Küchenchef Holger Gesemann lag mit seinem Tipp also daneben. Dafür hat er bei der Menüauswahl richtig gelegen. „Für das Essen hat es sich heute wieder gelohnt, zum MSV zu gehen“, sagt ein Gast und gönnt sich vor dem Nachhauseweg noch eine Minestrone.